„Meine Stollenschuhe hatte ich immer im Kofferraum“

Als Fan des runden Leders ahnt man es nicht. Aber alle Titel des VfL Wolfsburg aufzuzählen, ist im Grunde unmöglich. Weit über 1.000 Einzelmeisterschaften kamen in zeitweise über 40 Abteilungen des Gesamtvereins zusammen. Dazu dutzende Mannschaftstitel, Triumphe bei Europa- und Weltmeisterschaften und nicht zuletzt olympisches Edelmetall. Eines der bekanntesten Gesichter des VfL-Leistungssports ist bis heute Klaus Glahn, Gewinner der Silbermedaille bei den Spielen von München 1972, der auch losgelöst von diesem Erfolg den Judosport in Wolfsburg großgemacht hat. Im Interview blickt der 78-Jährige zurück in Zeiten, als er am Elsterweg nur einer von vielen internationalen Topsportlern war und erklärt, warum er immer wieder auch bei den fußballspielenden Wölfen mitgemischt hat.

Klaus Glahn, wenn Laien sich plötzlich mit Judo beschäftigen… Können Sie uns erklären, was mit „Siegen durch Nachgeben“ gemeint ist?

Klaus Glahn: 
Selbstverständlich, das ist ein gängiges Judoprinzip. Es geht darum, die Kraft des Gegners für sich zu nutzen. Wenn er schiebt, dann weiche ich zurück, drehe mich ein, tauche unter seinen Schwerpunkt und kann ihn werfen. Natürlich kommt das nicht in jedem Wettkampf zur Anwendung. Aber wenn der andere kräftiger ist als man selbst, kann das ein Erfolgsrezept sein.

Also mauern, bis der Gegner mürbe wird. Und dann zuschnappen.

Glahn:
 Genau. Auf den Fußball übersetzt kann man sagen: zurückweichen und den Ball in dem Moment wegspitzeln, wenn ihn der Gegenspieler sich zu weit vorgelegt hat. Es gibt eine berühmte japanische Sage von einem gewaltigen Sturm. Während die Eiche von ihm entwurzelt wird, weicht der Bambus vor dem Wind zurück, um sich anschließend wieder aufzustellen. Darauf gründet sich das zweite Judoprinzip, nämlich ein Maximum an Wirkung zu erzielen mit einem Minimum an Kraft.

Damit wären wir beim guten Pferd, das nur so hoch springt, wie es muss.

Glahn: Wenn ich ein ganzes Turnier überstehen wollte, dann bin ich es tatsächlich so angegangen. Ich habe versucht, meinen Kampf so kurz wie möglich zu gestalten, um mir die Kräfte aufzusparen. 

Mit dieser Methode waren sie gelinde gesagt sehr erfolgreich. Wie groß war Judo in Wolfsburg zu seiner besten Zeit?

Glahn: 
Wir hatten mal über 800 Mitglieder und waren die zweitstärkste Abteilung nach Turnen. Zeitweilig lagen wir damit sogar vor den Fußballern, meine ich. Wir wurden sehr schnell ziemlich erfolgreich und haben irgendwann die Bundesliga klar dominiert. Bei unseren Wettkämpfen waren nicht selten mehrere Hundert Zuschauer in der Halle.

Sie waren bereits ein Spitzenathlet, als sie 1970 vom Polizei SV Hannover zum VfL gekommen sind. Warum war Wolfsburg damals eine so gute Adresse?  

Glahn: Das hatte viel mit Volkswagen zu tun. Der Konzern hatte sich verpflichtet, Sportlerkostenstellen einzurichten, die es den Athleten ermöglichten, eine gewisse Zeit am Tag als bezahlte Freistunden in den Sport zu investieren. Gegenüber den „Vollprofis“ der DDR, die offiziell ja Amateure waren, haben wir dadurch einigen Rückstand wettmachen können. Ein bekannter ehemaliger DDR-Kanute hat mir mal erzählt, wie es dort ablief: Wenn man einmal entdeckt worden war und gefördert wurde, hat man entsprechend seinen beruflichen Fähigkeiten eine Stelle bekommen, musste aber im Grunde nur zur Arbeit gehen, wenn man es wollte. Der Rest des Tages gehörte dem Sport. So war es in Wolfsburg sicherlich nicht. Trotzdem waren die Bedingungen, die es hier gab, einmalig in Deutschland.

Wenn man im Judo etwas erreichen wollte, ging man zum VfL Wolfsburg?

Glahn: Richtig. Was auch ein wichtiger Faktor war: Als ich kam, stand schon die Gründung des Leistungszentrums fest. Man hat mir eine berufliche Perspektive geboten, außerdem hatte ich Olympia im Blick, wo ich natürlich gut abschneiden wollte. Übrigens sind wir mit sieben Leuten gleichzeitig vom Polizei SV Hannover gewechselt, was auch die schnellen Erfolge erklärt.

Wolfsburg galt schon immer als Sportstadt, in der Breite betrachtet zu Ihrer Zeit sogar mehr noch als heute. Als Sie hier ankamen: Wie waren die Kräfteverhältnisse zwischen in den Sportarten in der Stadt?  

Glahn: Handball hatte eine sehr starke Position, einige Deutsche Meister und sogar Weltmeister spielten ja für den VfL. Auch die Leichtathleten waren sehr gut aufgestellt und genauso die Gewichtheber, die wie wir von den Freistellungen im Werk profitierten. Turmspringen war sehr beliebt. Insgesamt gab es viele Athleten, die in ihren Sportarten damals Überragendes geleistet haben. Den höchsten Stellenwert bei den Wolfsburgern hatte trotzdem der Fußball, weil er einfach die Massen angezogen hat. Das war schon immer so.

Fechten, Leichtathletik, Judo, Gewichtheben, Turnen… Wenn man allein schon auf die Teilnahmen bei den Olympischen Spielen 1972 und 1976 schaut, dann war der VfL damals bemerkenswert breit vertreten. War am Elsterweg überhaupt genug Platz für so viele Spitzenathleten?

Glahn: 
Das hat sich alles sehr gut verteilt, wir standen uns nicht auf den Füßen. Höchstens mal im wörtlichen Sinn: In der Leichtathletikhalle haben wir häufig gegeneinander Fußball gespielt. Wir Judoka gegen die Leichtathleten oder gern auch gegen die Fußballer. Solche Wettkämpfe quer durch die Sportarten hat es häufig gegeben, das war immer ein großer Spaß.

Und in der VfL-Gaststätte hat man hinterher ein Bier miteinander getrunken?

Glahn: 
Ich persönlich hatte für Alkohol nie sehr viel übrig. Aber klar: Das Vereinsheim war immer ein beliebter Treffpunkt. Genauso wie der Kraftraum oder die Sauna. Ich kann mich gut erinnern, dass ich dort öfter zusammen mit Leichtathleten, Gewichthebern oder Fußballern saß. Wilfried Kemmer und Fredi Rotermund fallen mir beispielsweise ein.

Zum Fußball hatten Sie offenbar eine Affinität. Haben Sie jemals selbst aktiv gespielt?

Glahn: Aber ja! Bis ich etwa 16 oder 17 Jahre alt war, habe ich in meiner Heimatstadt Hannover bei Linden 07 gespielt. Dann habe ich mich für Judo entschieden, weil sich beides parallel nicht vertrug. Später war ich dann als Außenverteidiger unter anderem in der Ü40 des TSV Ehmen aktiv. Wir waren überaus erfolgreich: Ich meine, in einer Saison haben wir mal kein einziges Gegentor gefangen, in einer anderen keinen Punkt abgegeben. Übrigens bin ich kurzzeitig sogar als Funktionär im Fußball tätig gewesen, nämlich als Manager bei Eintracht Braunschweig. Wussten Sie das?

Ganz offen gestanden: nicht im Detail.

Glahn: Hab ich mir gedacht. Das war in der Saison 1984/1985, also noch zu Erstligazeiten. Trainer war Aleksandar Ristic, ein sehr guter Mann. Vize-Präsident Harald Schäfer war auf mich zugekommen, weil ich zu der Zeit erfolgreich das VfL-Leistungszentrum geleitet hatte. Mich hatte die Aufgabe sehr interessiert. Da mich Volkswagen dafür auch freistellte, habe ich es mal probiert. Leider war der Verein finanziell in großer Schieflage, was sich auch sportlich unweigerlich ausgewirkt hat. Zumal sie mit dem Abstieg zu Ende ging, blieb es für mich bei dieser einen Saison. Es war trotzdem eine sehr interessante Erfahrung. Von Ristic habe ich viel gelernt über Disziplin. Auch einige spätere Wolfsburger haben zu der Zeit für die Eintracht gespielt, zum Beispiel Waldemar JosefMichael GeigerHeiner Pahl und Frank Plagge.

Aktiv am Ball waren Sie offenbar auch für die Wölfe, zumindest im Training.

Glahn: Das stimmt, damit wären wir wieder in den 70ern zurück. Als ich in Wolfsburg ankam, hatte ich durch meine guten Kontakte zum NDR schon häufiger in Prominentenauswahlen gespielt. Zum Teil waren die mit Welt- und Europameistern bestückt. Insofern war ich da ganz gut im Saft. Zu den VfL-Fußballern habe ich dann relativ schnell einen guten Draht entwickelt. Imre Farkaszinski hatte wohl mitbekommen, dass wir nach unseren Einheiten manchmal noch Fußball spielten. Irgendwann fragte er mich, ob ich mal mitmachen möchte. So fing das an.

Es fing an, scheint zu bedeuten: Das ist häufiger als einmal vorgekommen.

Glahn: Ja, denn es hat allen Beteiligten Spaß gemacht. Im Vordergrund stand natürlich immer mein eigenes Training. Außerdem war ich auch acht Mal pro Woche als Trainer im Einsatz. Aber wenn Farkaszinski Lust hatte und ich die Zeit, dann hat er mich, wenn sie wieder mal unpaarig waren, eingeladen mitzutrainieren. Das ist durchaus öfter passiert, deshalb hatte ich meine Stollenschuhe auch immer im Kofferraum. 

Wie genau lief ein solches Training ab? Ihr Talent in allen Ehren: In einem Team eines Beinahe-Erstligisten dürften sie technisch etwas abgefallen sein.

Glahn: Völlig klar: So geschmeidig wie die anderen konnte ich mit der Kugel nicht umgehen, auch wenn der Ball für mich kein Fremdkörper war. Aber um das auszugleichen, habe ich dann einfach meine Kraft eingesetzt. Ich habe ja auch nie die gesamte Einheit mit allen Übungen absolviert, davon hätte niemand etwas gehabt. Meistens habe ich auf Zuruf beim Abschlussspiel mitgewirkt, natürlich dann in der Abwehr.

Wenn man sich die Fotos von damals so ansieht, dann dürften Sie kein angenehmer Gegenspieler gewesen sein.

Glahn: 
Ich sage ja, mit meiner Athletik habe ich einiges wettmachen können. Natürlich bin ich nie auf die Knochen gegangen oder habe in Kauf genommen, dass sich jemand verletzt. Aber wenn jemand gegen mich gelaufen ist, dann ist er halt abgeprallt (lacht).

Konnten Sie den Fußballern auch irgendwas beibringen? Gab es die Idee, dass sie von einzelnen Ihrer Fähigkeiten profitieren?

Glahn: Es war nicht so, dass ich bestimmte Kniffe oder Tricks vorführen sollte. An so etwas kann ich mich nicht erinnern. Meist ging es wirklich um den Spaß an der Sache. Als Anschauungsunterricht diente höchstens mal die Art, wie ich meinen Körper eingesetzt habe.

Sehen Sie zwischen Judo und Fußball überhaupt irgendwelche Parallelen?

Glahn: Das ist eine schwierige Frage. Eigentlich wenige, da beim Fußball elf Leute auf dem Feld harmonieren müssen, während ein Judoka Einzelkämpfer ist. Aber vielleicht ging es auch darum, den Spielern meine Leistungsbereitschaft als Vorbild zu zeigen. Ich sage mal ganz platt:Wenn einem Fußballer die Kraft ausgeht, dann spielt er den Ball ab. Aber wenn ich auf der Matte stehe und bin erschöpft, dann lande ich auf dem Rücken. Und diese Bereitschaft, umso härter zu trainieren, damit der Wettkampf leichter wird, das war immer ein Credo von mir. So lange ich die Chance hatte, ein Ergebnis zu verbessern, habe ich dafür gearbeitet. Vielleicht hat der Farkaszinski das an mir geschätzt.

 

Sie sagen, mit einigen Fußballern hätten sie sich bestens verstanden,…

Glahn: Ja, genau. Kemmer ist da auf jeden Fall zu nennen. Genauso Rotermund, Wölfi Krause, Dieter Thun - und Ingo Eismann.

… hat die Mannschaft auch so etwas wie Fangefühle in Ihnen geweckt? 1970 war schließlich für die Fußballabteilung ein sehr erfolgreiches Jahr, es gab die Aufstiegsrunde zur Bundesliga und dadurch vermutlich viel Trubel ums Team.

Glahn: Das habe ich zwar mitbekommen, aber offen gestanden war ich zu der Zeit sehr mit mir selbst beschäftigt. Ich bin nicht sicher, ob ich die Aufstiegsspiele live im Stadion verfolgt habe. Wahrscheinlich habe ich das. Aber häufig hatte ich parallel meine eigenen Wettkämpfe zu bestreiten und war viel unterwegs. Fan wäre deshalb auch nicht das richtige Wort. Es gab einfach großen gegenseitigen Respekt unter uns Athleten am Elsterweg. Auch viele Fußballer haben an meinem Abschneiden Anteil genommen und sich dafür interessiert, wie wir als Judo-Mannschaft unser Training aufbauen und die Belastung steuern. Wenn es geklappt hätte mit dem Aufstieg, hätte ich mich andersherum sehr für sie gefreut.

Gab es auch ein Miteinander abseits des Rasens? Gemeinsame Touren durchs Nachtleben vielleicht?

Glahn: (lacht) Wenn ich mal abends um die Häuser gezogen bin, dann waren es eher Kontrollgänge, um meine Jungs vor wichtigen Kämpfen bei der Stange zu halten. Aber dabei sind mir sicherlich auch hin und wieder Fußballer begegnet. 

Wurden dann eher Sie auf Straße erkannt oder die Spieler?

Glahn: 
Zu Anfang sicherlich die Fußballkollegen. Leute wie Kemmer, Krause und Rotermund waren bekannte Gesichter in der Stadt, weil sie ja auch alle zwei Wochen vor mehreren Tausend Leuten gespielt haben. Später kamen auch Zeiten mit Kulissen von nur ein paar Hundert Zuschauern. Da übrigens war auch ich fleißiger Zaungast am Elsterweg, deshalb weiß ich das noch. Später, als ich die Silbermedaille gewonnen hatte, konnte ich vom Bekanntheitsgrad dann vielleicht gleichziehen.

Das scheint etwas tief gestapelt: Nach den Spielen von München gab es für Sie einen Triumphzug in offenen Autos durch die Stadt.

Glahn: 
Mir war das ehrlich gesagt etwas unangenehm. Aber natürlich war das ein schöner Moment, den Hildegard Falck, die anderen Athleten und ich bestimmt niemals vergessen werden.

Die Erfolgskurven lesen sich für die folgenden Jahre höchst unterschiedlich. Während die Fußballer zwischen zweiter und dritter Liga pendelten, begann für die VfL-Judoabteilung eine goldene Ära mit allein schon elf Deutschen Meisterschaften zwischen 1972 und 1990. War der VfL Wolfsburg damals der FC Bayern des Judosports?

Glahn:
 Ja, das könnte man so sagen. Wir sind in dieser Zeit fünf Mal Deutscher Mannschaftsmeister hintereinander geworden, das hatte vorher noch niemand geschafft. Insofern ist der Vergleich ziemlich treffend. 

Zu den größten Erfolgen in 75 Jahren VfL Wolfsburg zählen sicherlich die drei Olympiamedaillen im Judo. Eine haben Sie 1972 errungen, die anderen beiden Frank Wieneke in Los Angeles und Seoul. Stimmt es, dass Sie beide aus derselben Straße stammen?

Glahn: 
Das ist tatsächlich richtig. Inzwischen wurde die Straße geteilt und umgetauft. Aber früher gab es in Hannover die Elisenstraße. Dort hat Frank am oberen Ende Richtung Limmer gewohnt und ich am unteren Richtung Küchengarten. Dazu muss man sagen, dass ich Frank 1981 gezielt auf Initiative seines Vaters nach Wolfsburg geholt habe. Trotzdem bleibt es ein unglaublicher Zufall.

Sie haben in den Jahren als Athlet, Trainer und Funktionär die ganze Welt gesehen. Warum wurde Wolfsburg der Ort, an dem Sie Wurzeln geschlagen haben?

Glahn: 
Diese Frage habe ich mir noch nie gestellt. In Wolfsburg ging es mir wirtschaftlich zu 50 Prozent besser als vorher in Hannover, das war sicherlich eine Grundmotivation. Über die Jahre habe ich mir dann viel aufgebaut, neue Freundschaften haben sich entwickelt, ohne dass die alten abreißen mussten. Nach meiner aktiven Karriere habe ich versucht, selbst Olympiateilnehmer zu entwickeln. In Wolfsburg habe ich eine Familie gegründet, ein Haus gebaut. Und nebenbei hatte ich immer beruflich spannende Aufgaben. Wenn einfach alles so gut zusammenpasst, man so viele Annehmlichkeiten genießt, die man als Kind nicht hatte, dann hält man auch daran fest. Deshalb bin ich nie auf die Idee gekommen, von hier wegzugehen.

Veröffentlicht im „Unter Wölfen Magazin“ im Oktober 2020.