Soziales

„Wenn ich nicht rede, sind sie wieder blind“

15 Jahre Blindenreportage beim VfL.

„Die Grün-Weißen schieben den Ball hin und her. Ein Foul an Renato Steffen führt zum Freistoß, der Schiedsrichter holt schon den Rasierschaum hervor und die Mauer stellt sich etwa 35 Meter halblinker Position vor dem Tor auf. Maximilian Arnold schnappt sich den Ball, nun kommt auch Admir Mehmedi dazu. Doch Arnold läuft an, sein satter Schuss wird abgeblockt.“

Es steht weiterhin 0:0, die rund 25.000 Fans in der Volkswagen Arena sehen einen munteren Start der Wölfe – einige VfL-Fans können den Auftritt der Labbadia-Elf jedoch nicht betrachten. Sie sind sehbehindert und hören lediglich die Worte von Paul Beßler. „Wenn ich nicht rede, dann sind diese Fans wieder blind“, bringt es der Mann, der seit 15 Jahren Blindenreporter in der Volkswagen Arena ist, auf den Punkt. Beim Heimspiel gegen den SC Freiburg, beging Beßler sein Dienstjubiläum. Erstmals übte er 2003 bei der Partie gegen Bayer 04 Leverkusen diese Rolle aus. Inzwischen hat Beßler über 350 Spiele reportiert. Ja, richtig – Blindenreporter kommentieren nicht, sondern reportieren. Dabei geben sie jedes kleinste Detail wieder, das sie sehen. Besonders wichtig ist die räumliche Verortung. Links und rechts reichen nicht aus, es muss mehr erklärt, ein Rahmen geschaffen werden. Gegengerade, Haupttribüne, Nord- und Wölfikurve grenzen das Stadion ein. Der Reporter muss genau beschreiben, wo der Ball ist, wie die Spieler agieren und natürlich auch die Schiedsrichter.

Mit den Ohren sehen

Beßler arbeitete als Tischler, studierte Innenarchitektur und Pädagogik, er ist viele Jahre als Lehrer an einer Förderschule tätig und erwarb sogar die Trainer-A-Lizenz. Seinen ersten Einsatz als Blindenreporter hat er nicht vergessen: „Durch meine Trainertätigkeit habe ich schon beim Fehlpass im Mittelfeld gesehen, dass die Situation gefährlich wird. Als Bernd Schuster dann tatsächlich das Tor zum 1:0 erzielte, habe ich einfach aufgehört zu reden und die sehbehinderten Fans wussten nicht mehr, was auf dem Platz passierte. So lernte ich gleich meine erste Lektion: Wenn ich nicht rede, sind sie wieder blind.“ Der 73-Jährige kann das Spiel nicht laufen lassen, ohne etwas zu sagen. Das Dauer-Reportieren strengt an, deswegen sind stets zwei Mann im Einsatz. In seiner Anfangszeit bildete er ein Duo mit Florian Kneifel. Inzwischen geht es mit Marcel Meyer on air. Sie wechseln sich im Fünf-Minuten-Takt ab. Mit dem 23 Jahre alten Meyer – beide kommen aus Salzgitter – versteht sich der Routinier bestens. Der Altersunterschied von 50 Jahren ist dabei kein Hindernis. „Ich arbeite analog, Marcel digital.“ Beßler bereitet sich mit Zeitungslektüre vor, Meyer online. Wichtiges Recherchemittel ist außerdem die umfangreiche Vorschaumappe der Deutschen Fußball Liga (DFL) mit allen Fakten rund um die Teams. Darin verstecken sich nette Anekdoten, die vor allem in längeren Spielunterbrechungen hilfreich sind. Der eingeführte Videobeweis zum Beispiel entpuppt sich als Herausforderung. Mit launigen Sprüchen spielen sich beide die Bälle zu und verleihen ihrer Aufgabe eine besondere Note.
 

Worte für Bilder im Kopf

Im Block A, Reihe 9 sitzt bei jedem Heimspiel Alexandra Bienert. Die 46-Jährige ist seit ihrer Geburt blind. Dank Parkausweis direkt an der Volkswagen Arena kommt sie nahezu barrierefrei ins Stadion. „Die Wege sind kurz, wir fühlen uns hier gut betreut. Paul ist schon lange unsere Stimme, wir mögen ihn.“ Bienert verfolgt den Fußball im Allgemeinen und den VfL im Besonderen regelmäßig auch im Radio und Fernsehen. „Aber hier zu sein, ist etwas ganz Anderes. Die Reporter erwähnen jedes Detail und so bekommen wir alles hautnah mit.“ Seit 2011 drückt sie den Wölfen live vor Ort die Daumen. Der Blindenverein hatte sie damals auf das Angebot des VfL aufmerksam gemacht, der seit 2003 das Gemeinschaftsgefühl aller Besucher stärken und auf die Ränge übertragen will. Denn egal, ob als Spieler, Zuschauer oder Trainer – die Begeisterung für den Sport bringt Menschen zusammen – und zwar auf Augenhöhe. Fußball verbindet, durch die gemeinsame Freude am Spiel werden Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderung und Barrieren in den Köpfen abgebaut. Die Heimstätte der Wölfe ist ein großer Ort der Begegnung und daher sehr gut geeignet, um auch hier über den Sport das Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung zu fördern. „Es fühlt sich an, als wäre ich mittendrin“, sagt Angelika Krüger aus Vorsfelde, die über Kopfhörer den Kommentar hört. Seit 2004 hat sie eine Dauerkarte beim VfL und saugt vor allem die Stadionatmosphäre auf. „Die Stimmen von Paul und Marcel sind sehr angenehm. Durch ihre Worte versuche ich mir im Kopf und Geist vorzustellen, was unten auf dem Rasen passiert. So kann ich das Spielgeschehen gedanklich nachvollziehen. Sie beschreiben hautnah, emotional und so bildreich, dass jeder das Gefühl hat, direkt am grünen Rasen zu sitzen.“ Die Arbeit von Paul Beßler, Marcel Meyer sowie seit diesem Jahr auch von den beiden Studenten Dorian Wieczorek und Christoph Hoberg bietet Blinden und Sehbehinderten eine tolle Chance, mehr Spaß am Fußball zu haben. Routinier Beßler freut sich über die Unterstützung, denn es ist anstrengend, durchweg zu reden. Was zwischendurch hilft? Lutschbonbons! „Welche, die auch Schauspieler und Opernsänger am Staatstheater Braunschweig nutzen“, sagt er, der für Theaterfreunde mit einer Sehbehinderung Inszenierungen beschreibt, mit einem Augenzwinkern und fügt hinzu: „Abends auf dem Sofa bin ich still.“

Es ist für jeden Platz

Seit nunmehr 15 Jahren setzt sich der VfL Wolfsburg dafür ein, dass Menschen mit Handicap die Spiele der Wölfe live in der Volkswagen Arena erleben können. Durchschnittlich sind zu einer Bundesligapartie rund zehn sehbehinderte Anhänger der Grün-Weißen im Stadion, die den Service nutzen. „Teilhabe ist ein wichtiges Anliegen im Rahmen unseres sozialen Engagements. Unser grundsätzliches Ziel ist es, Menschen mit Handicap die unkomplizierte Teilnahme an einem Heimspiel zu ermöglichen“, erklärt VfL-Geschäftsführer Dr. Tim Schumacher. „Mit dem inklusiven Angebot des Blindenreports können wir unseren sehbehinderten Fans ein intensiveres Stadionerlebnis bieten.“ Fußballspiele live zu sehen, ist einfach etwas Besonderes. Das lernt auch Marcel Meyer schon sehr früh in seiner Kindheit. Bereits im Alter von acht Jahren geht er ins Stadion, um den VfL vor Ort zu unterstützen. Es wächst eine Bindung, die ihn bis heute nicht loslässt. Natürlich besitzt er eine Dauerkarte, erlebt Höhen und Tiefen mit dem Klub. Im Jahr 2016 absolviert er sogar ein sechsmonatiges Praktikum für den Deutschen Meister von 2009 und bewirbt sich als Blindenreporter. Diese ehrenamtliche Tätigkeit ist für Meyer „mehr als nur ein Nebenjob.“ Inzwischen studiert er Sportwissenschaften in Bielefeld und träumt von einem festen Berufseinstieg in der Fußball-Branche, „am liebsten beim VfL.“

Zungenbrecher Pogrebnjak

„20 Meter vor dem Tor, halblinke Position, Josip Brekalo zieht rechts am Tor vorbei, aber keine Gefahr für die Gäste“ – Paul Beßler ist wieder mittendrin in seiner Reportage. Die Leidenschaft und Begeisterung für Fußball hört man in jedem Satz, in jeder Beschreibung. Viele Spieler erkennt er an ihren Bewegungen, am Laufstil und ihren Gesten. Versprecher gibt es bei ihm ganz selten. Nur bei einem hat er sich schwergetan: „Pavel Pogrebnjak, damals beim VfB Stuttgart unter Vertrag und mit Armin Veh zu Gast in Wolfsburg. Ich hab’s immer wieder versucht, aber konnte den Namen nicht fehlerfrei aussprechen“, erinnert er sich. „Ich war froh, als er in der 63. Minute ausgewechselt wurde.“ Auch an ein Länderspiel der deutschen U21-Nationalmannschaft gegen Litauen denkt der pensionierte Förderschullehrer nicht so gern zurück. „Fast jeder Name endete auf -cius. Nachher habe ich das einfach nur noch beschrieben mit: Spieler Nummer sieben, Spieler Nummer neun oder Spieler im gelben Trikot.“ Richtig in Ekstase redet sich Paul Beßler dagegen beim legendären 5:1-Sieg des VfL gegen den FC Bayern München im April 2009. „Das Tor von Grafite war das schönste in meiner Tätigkeit als Blindenreporter.“