Die Geschichte, die Günter Klinzmann erzählt, klingt ebenso traurig wie hochinteressant. „Mein Onkel gehörte zu den berühmten ‚letzten Zehntausend‘, die erst zehn Jahre nach Kriegsende aus russischer Gefangenschaft freigekommen sind“, berichtet der 79-Jährige. „Als er zu Hause ankam, hatte seine Frau inzwischen einen neuen Partner gefunden. Und das war niemand sonst als Otto Kielich.“ Zur Zeit, als sich diese Szene zutrug, war dieser Kielich in Wolfsburg ein bekannter und hochangesehener Mann. Sein Name war fest verbunden mit der frühen Erfolgsphase der erst wenige Jahre alten VfL-Fußballabteilung. An diesem Dienstag wäre Kielich 100 Jahre alt geworden.
Starthilfe aus dem Westen
Der Aufstieg in die Oberliga Nord 1954, er muss sich für Kielich wie ein vollendetes Lebenswerk angefühlt haben. Erstens hatte der damals 32-Jährige mit den Wölfen zuvor drei erfolglose Aufstiegsrunden in Folge durchlitten. Zweitens wäre Grün-Weiß ohne Spieler seines Formats mutmaßlich nie in diesem (immer noch) beachtlichen Tempo oben angekommen. So zählte Kielich zur legendären „Schalke-Familie“, einer Gruppe hochtalentierter West-Fußballer, die von Volkswagen Mitte der 40er mit Arbeitsplätzen an den Mittellandkanal gelotst worden waren, um im Gegenzug im Wölfe-Trikot für schnelle Erfolge zu sorgen. Kielich, der 1947 etwas später als die übrigen Schalker beim VfL ankam, hatte als jahrelanger Abwehrchef wie kaum ein zweiter gehörigen Anteil am Durchmarsch durch die Spielklassen, der nur neun Jahre nach Vereinsgründung im Erstliga-Einzug gipfelte.
Stark am Ball wie in der Luft
Kielich prägte die frühen Wölfe mit beachtlicher Konstanz. Die Zahl von 500 grün-weißen Einsätzen, die der Verein zum zehnjährigen Klubjubiläum 1955 ausrief, scheint in der Rückschau etwas hochgegriffen. Trotzdem fand ab Mitte der 40er kaum ein Ligaspiel ohne ihn statt. In einer Zeit, als die VfL-Fußballer in den knapp gehaltenen Spielberichten noch Hartmann I und Hartmann II hießen, zählte der Mittelläufer, von der Presse regelmäßig als „Teufelskerl“ oder „Turm in der Schlacht“ abgefeiert, im Wolfsburger Raum zu den allerersten Stars. „Er war eine Klasse für sich. Ein richtig guter Fußballer, technisch hervorragend und ungemein kopfballstark“, erinnert sich Helmut Bräutigam (92), der jahrelang hinter Kielich das VfL-Tor hütete. „Am meisten hat mich seine Routine beeindruckt. Otto lief keinen Meter umsonst.“