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„Schalke-Familie“ leistete Aufbauhilfe in Wolfsburg

Historische Verbindung zwischen VfL und S04: Dank acht Spielern aus dem Ruhrpott stürmten die Grün-Weißen in nur neun Jahren in die höchste Spielklasse. Volkswagen war der entscheidende Faktor.

Neun Jahre benötigte der VfL Wolfsburg bekanntlich nach seiner Gründung 1945 von der Kreisklasse Gifhorn bis in die Erstklassigkeit. Ehe in den frühen 50ern VfL-Größen wie Günther Litzenberg, Alfred Heider und Günter Leich am Elsterweg wirbelten, brauchte es da ein kleines sportliches Wunder. Dieses kam sozusagen auf Bestellung. „Durch den Krieg gab es hier nicht genügend gute Spieler. Deshalb hat man sich im Westen ganz gezielt auf die Suche gemacht“, sagt Margrit Kwiatkowski. Im Ruhrgebiet wurde Volkswagen fündig und lotste im Sommer 1946 gleich acht Spieler aus dem Raum Gelsenkirchen mit ihren Familien nach Wolfsburg. Es war der Startschuss für einen rasanten Durchmarsch: Dank der „Schalke-Familie“, wie man sie fortan in ihrer neuen Heimat nannte, feierte Grün-Weiß einen Aufstieg nach dem anderen.
 

Gutes Geschäft für alle Beteiligten

Der Deal war denkbar einfach: Volkswagen bot eine sofortige Anstellung, sorgte zudem für Lebensmittel und Wohnraum. Im Gegenzug wurde das neue VfL-Team, erst seit Kurzem im Spielbetrieb und bislang kaum wettbewerbsfähig, vollverstärkt. Für die Auserwählten ein Angebot, das sie kaum ausschlagen konnten. „Gelsenkirchen war ein Trümmerhaufen. Die Männer kamen aus der Kriegsgefangenschaft heim, standen am Bahnhof und wussten nicht, wohin. Jeder wollte diese Chance daher nutzen“, berichtet Kwiatkowski, die alles aus allererster Hand weiß. Ihr 2011 verstorbener Mann Bernhard Kwiatkowski war genau wie sein Bruder Anton einer der Acht. Mit ihnen kamen die Zwillinge Ernst und Helmut Pelka, Erwin Hartmann, der wegen seiner auffälligen Haarfarbe als „der rote Erwin“ in Wolfsburg bekannt werden sollte, Ernst Klisch und Heinz Neumann, ein Cousin der späteren Knappen-Legende „Charly“ Neumann. Etwas später stieß noch Otto Kielich hinzu. Was alle einte: Vor dem Krieg hatten sie bereits auf hohem Niveau in der Schalker Jugend gespielt. Sie brachten Talent mit und Erfahrung, waren zudem auch körperlich ihren neuen Teamkameraden voraus. „Das waren alles athletische junge Burschen, die übrigens nicht nur auf dem Fußballplatz eine Hilfe waren. Mein Mann zum Beispiel hat auch im VfL-Feldhandballteam gespielt“, so die 77-Jährige.
 

Gewaltige Verstärkung

Zwischen dem frisch gegründeten VfL Wolfsburg und Schalke 04 entstand ohnehin in den Nachkriegsjahren eine besondere Verbindung. Wohl mehrfach in dieser Zeit kamen die Knappen zu Freundschaftsspielen nach Niedersachsen. Ein Zirkel um Rudolf Zenker, VfL-Mitbegründer und Vereinsmitglied Nummer eins, pflegte ins Ruhrgebiet gute Kontakte. Im teilweise vom Krieg zerstörten Werk konnte man Arbeitskräfte aus dem Westen bestens gebrauchen. Dass Schalke fußballerisch andersherum zum VfL-Aufbauhelfer wurde, überraschte kaum. Die Königsblauen waren zu dieser Zeit schon mehrfach Deutscher Meister und als Gründungsmitglied der West-Staffel dort zu Hause, wo Grün-Weiß dank ihrer Unterstützung 1951 erstmals anklopfte und drei Jahre später schließlich ankommen sollte: in der höchstmöglichen Spielklasse, der Oberliga Nord.
 

Zwölf Mann im Käfer

Denn kaum, dass die Neuen auf dem Platz standen, legte das junge VfL-Team einen gewaltigen Zwischenspurt ein. Kreisklasse, Bezirksklasse, Landesliga – mit den „Schalkern“ im Team rauschten die Wölfe von einer Meisterschaft zur nächsten. Und das unter Umständen, die aus heutiger Perspektive abenteuerlich klingen. „Umgezogen haben sich die Spieler in den Waschküchen der Bauern. Zu den Auswärtsspielen hat sie Mannschaftsarzt Willi Wolf persönlich gefahren“, berichtet Kwiatkowski und erzählt eine Geschichte, die man kaum glauben mag. „Ein anderes Auto gab es im VfL-Umfeld nicht. Deshalb mussten diese elf langen Latten tatsächlich alle in seinen Käfer. Irgendwie hat es immer gepasst.“ System hatte übrigens auch die Verteilung der Unterkünfte, die man für die ersten Neuverpflichtungen der Vereinsgeschichte vorbereitet hatte. „Die Junggesellen bekamen möblierte Zimmer und die Verheirateten, wie mein Schwager Anton, eine Wohnung. Auf solche Unterscheidungen hat man Wert gelegt damals.“
 

Beinahe drei Kwiatkowskis beim VfL

Die Kwiatkowski-Fußballbrüder waren ursprünglich zu viert gewesen. Einer von ihnen fiel im Krieg. Der jüngste, Heinrich, brachte es als Torwart sehr weit. Er stand nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft zunächst bei Schalke 04 im „Kasten“, wurde später dreimal Deutscher Meister mit Borussia Dortmund und war als zweiter Keeper Bestandteil der berühmten deutschen WM-Auswahl 1954 beim „Wunder von Bern“. Nicht viel hätte gefehlt, und auch „Heini“ wäre beim VfL Wolfsburg gelandet. „Eigentlich hatte er Bernhard und Anton begleiten sollen. Das scheiterte aber am Veto der Mutter. Zumindest ihn wollte sie noch bei sich behalten.“
 

In Wolfsburg Wurzeln geschlagen

Aus Sicht der Spieler hatte immer im Vordergrund gestanden, Arbeit zu finden. Und die bekamen sie bei Volkswagen alle. Heinz Neumann etwa startete in der Lackiererei, Anton Kwiatkowski ging in die Verwaltung. Sein Bruder Bernhard, 23 Jahre alt bei seiner Ankunft, hatte einst Schosser gelernt und begann bei Volkswagen in der Reparaturwerkstatt. Nach einer Zwischenstation im Rohrleitungsbau arbeitete er bis zu seinem Ruhestand 1982 als Pistolenschlosser in der Lackiererei. Auf dem Fußballplatz spielte Bernhard Kwiatkowski mal im Feld, mitunter stand er auch im Tor. „Das nahm man damals nicht so genau.“ Anfang der 50er hing er seine Schuhe an den Nagel. Wieder in den Westen zu gehen, wie es etwa die Pelka-Brüder taten, kam ihm nicht in den Sinn. „Das ist nie ein Thema gewesen. Ganz im Gegenteil: Mein Mann ist hier heimisch geworden, er blieb dem VfL zeitlebens verbunden“, sagt seine Witwe, die nach wie vor in der gemeinsamen Wohnung lebt. „Dass er damals in Wolfsburg ein neues Leben begonnen hat, diese Entscheidung hat er sicher niemals bereut.“   

Veröffentlicht in „Unter Wölfen“ am 28. August 2015. Hinweis der Redaktion: Margrit Kwiatkowski ist am 23. Januar 2020 im Alter von 81 Jahren verstorben.


VfL-Ligazugehörigkeit seit 1945

SaisonSpielklasseLigaAbschlussplatz
1963/642Regionalliga Nord9
1962/632Amateur-Oberliga Niedersachsen Ost1
1961/622Amateur-Oberliga Niedersachsen Ost3
1960/612Amateur-Oberliga Niedersachsen Ost5
1959/602Amateur-Oberliga Niedersachsen Ost3
1958/591Oberliga Nord16
1957/581Oberliga Nord11
1956/571Oberliga Nord14
1955/561Oberliga Nord14
1954/551Oberliga Nord14
1953/542Amateur-Oberliga Niedersachsen Ost2
1952/532Amateur-Oberliga Niedersachsen Ost2
1951/522Amateur-Oberliga Niedersachsen Ost1
1950/512Amateur-Oberliga Niedersachsen Ost1
1949/502Landesliga Niedersachsen Ost2
1948/492Landesliga Braunschweig4
1947/483Bezirksklasse Heide1
1946/473Bezirksklasse Heide1
1945/464Kreisklasse Gifhorn1