Mann der ersten Stunde

Seit dem GrĂŒndungstag ist Helmut Bork Mitglied beim VfL Wolfsburg. Und der vermutlich letzte Zeitzeuge der Ereignisse um den 12. September 1945.
 
Mit den JubilĂ€en der GrĂŒn-Weißen ist es so eine Sache. Zehn Jahre Meisterschaft, 20 Jahre Bundesliga, ein Vierteljahrhundert Profifußball – die meisten Meilensteine lassen sich sauber datieren. Geht es um den Ursprung der heutigen Wölfe, obwohl er im Ligavergleich verhĂ€ltnismĂ€ĂŸig kurz zurĂŒckliegt, wird es aber kompliziert. Los geht es schon damit, dass der Verein fĂŒr LeibesĂŒbungen Wolfsburg Volkswagenwerk, so der ursprĂŒngliche Name, ganz zu Anfang aus sieben Sparten bestand: Turnen, Gymnastik, Handball, Schach, Tennis, Radsport und Boxen. Eine Fußballabteilung gehörte zunĂ€chst nicht dazu, sondern entstand erst zwei Wochen spĂ€ter. Um die Jahrtausendwende spaltete sich die heutige VfL Wolfsburg Fußball-GmbH dann bekanntlich aus dem Gesamtverein ab, der wiederum – gewachsen auf zeitweise ĂŒber 40 Abteilungen – weiterhin fortbestand. Somit ist das große JubilĂ€um „75 Jahre VfL Wolfsburg“ vor allem eines des alten e.V. und erfĂ€hrt trotzdem auf beiden Kanalseiten WĂŒrdigung, da es die gemeinsamen Wurzeln betrifft.

Fußball direkt hoch im Kurs

Was genau aber geschah vor bald 75 Jahren? Der wohl letzte Zeitzeuge, der aus erster Hand berichten kann, ist Helmut Bork. Als Jugendlicher war er seinerzeit einer von etlichen Bewohnern der kleinen Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben, die im rauen Alltag der Aufbaujahre in organisierter Form Sport treiben wollten. Schon im Sommer 1945, so erinnert er sich, hĂ€tten er und seine Mitstreiter sich daher zusammengetan. „Das muss etwa im Juni gewesen sein. In einer Wirtschaft in Heßlingen haben wir sportbegeisterten jungen Menschen der Stadt uns versammelt. Dabei haben sich zwei Gruppen gebildet. Die einen wollten Fußball spielen. Das war aber nichts fĂŒr mich, zumal ich schon wĂ€hrend des Krieges begeisterter GerĂ€teturner gewesen war. Deshalb habe ich mich auf die Seite derer geschlagen, die andere Sportarten bevorzugten.“ Auseinandergegangen sei man an diesem Tag im Unkonkreten. Doch hĂ€tten er und seine Nachbarn, Kumpels und Kollegen („Wir kannten uns ja alle.“), dies ist kein ganz unbedeutendes Detail, sich noch namentlich in Listen eingetragen, die bei dieser Versammlung ausgelegen hĂ€tten. 

 

Erst blutige Nasen geholt

Es sollte eine schwere Geburt werden, ehe aus dem Drang der Jugendlichen sowie vieler anderer der gerade mal ein paar tausend Einwohner zĂ€hlenden Stadt ein Sportverein nach gewĂŒnschtem Zuschnitt werden konnte. Denn im Weg stand die englische Besatzungsmacht, deren Erlaubnis zwingend erforderlich war. In der offiziellen Geschichtsschreibung lesen sich die weiteren AblĂ€ufe so: Zwei MĂ€nner namens Willi Hilbert und Kurt Lindner, der die britischen Soldaten im Boxen trainierte, reisten am 19. Juni zur MilitĂ€rregierung nach Hannover, stießen dort jedoch auf Argwohn und erhielten lediglich die Genehmigung fĂŒr einen „Volkssport- und Kulturverein“. Dies war eine Gemeinschaft, in der man zwar auch Sport treiben durfte, die aber zugleich stark politisch koloriert gewesen ist. Hilberts und Lindners Mitstreiter regierten zu Hause nicht begeistert, so dass man sich neu zusammentat mit dem Ziel, in die Nachverhandlungen zu gehen. Eine entscheidende Rolle spielte hier ein gewisser Bernward Elberskirch, der ĂŒberall als Kreisjugendpfleger gefĂŒhrt wird und mit dem wiederum Bork persönlich bekannt war. „Er konnte als einer von wenigen englisch sprechen und war deshalb eine Art Mittelsmann zur englischen Kommandantur“, so Bork. „Außerdem wohnte er bei uns im Haus. Ich saß also direkt an der Quelle der Informationen.“

„Du bist GrĂŒndungsmitglied“

Am berĂŒhmten 12. September, einem Mittwochabend, wurde es dann offiziell. In einem Sitzungszimmer der Wohnungsgesellschaft Neuland kam es zur entscheidenden Zusammenkunft mit dem konkreten Ziel, den VfL aus der Taufe zu heben. Am Tisch saßen nun keine Halbstarken mehr, sondern bedeutende Personen der Stadt, nĂ€mlich neben Hilbert und Lindner noch Herbert Chall, Sepp Dietz, Alois Dilla, Irma Dziomba, Heinz Schacht, Arthur Schickl, Erich Schilling, Adam Schröck, Fritz Walb und Rudolf Zenker. Unstrittig ist, dass diese Zwölf dem Sportgeschehen in Wolfsburg entscheidend auf die Beine halfen, zumal viele von ihnen den ersten Abteilungen spĂ€ter als Leiter vorstanden. Doch ist laut Bork damit die Geschichte noch nicht zu Ende erzĂ€hlt, denn auch diesen GrĂŒndungsversuch hĂ€tten die Briten nicht einfach durchwinken wollen. Zum entscheidenden Durchbruch hĂ€tten stattdessen jene Listen verholfen, die beim lockeren Treffen der Jugendlichen seinerzeit verteilt worden waren. „Die offiziellen GrĂŒnder waren noch nicht entnazifiziert. Deshalb hat man sie kurzerhand in den Papieren, die der MilitĂ€rregierung vorgelegt wurden, durch zwölf Namen von dieser Liste ersetzt – unter anderem durch meinen“, sagt der 91-JĂ€hrige und beruft sich hier unter anderem auf Elberskirch. „Er hat hinterher zu mir gesagt: ‚Du bist ĂŒbrigens GrĂŒndungsmitglied.‘“

 

Seit 75 Jahren im Verein

Dass er wahrhaftig ein Mann der ersten Stunde war, das hat Bork, Neffe des spĂ€teren langjĂ€hrigen Wolfsburger OberbĂŒrgermeisters Hugo Bork, sogar schriftlich bekommen. So waren ganz zu Anfang die Grenzen zwischen den Abteilungen der GrĂŒn-Weißen fließend gewesen. Erst als Bork, nachdem er zuvor auch dem Boxen und dem Fußball zugetan gewesen war, sich mit etwa 17 Jahren dann der Handballsparte anschloss, bekam er aber seinen Mitgliedsausweis mit dem Vermerk eines entsprechend spĂ€teren Datums ausgestellt. „Das hat mich immer gestört, da ich doch wirklich seit dem ersten Tag Vereinsmitglied mit. Deshalb hatte ich darum gebeten, meinen Ausweis auch auf den 12. September 1945 zu datieren.“ Diesem Wunsch kam der VfL-Hauptvorstand 1982 nach. Den Ausweis trĂ€gt er wie als BeweisstĂŒck immer griffbereit bei sich. Allein dieses Zeugnis schließlich macht Bork schon zu einer besonderen Person. Denn es bedeutet, dass nicht nur der VfL Wolfsburg in diesem Jahr sein 75-JĂ€hriges feiert, sondern genauso auch Bork. Und dies seines Wissens als einziger: „Ich wĂŒsste nicht, dass es noch jemanden gibt. Ich dĂŒrfte der letzte Überlebende sein.“

Nie woanders gearbeitet als im Werk

So ausdauernd Bork den GrĂŒn-Weißen die Treue hielt, so hielt er es auch mit einem Arbeitgeber. Am 1. April 1944 fing er bei Volkswagen an. Seine Ausbildung zum kaufmĂ€nnischen Angestellten musste er wegen des Krieges zwar unterbrechen, ab Januar 1946 hĂ€ngte er die fehlende Zeit aber dran. „Danach wurde ich zuerst in der Materialverwaltung eingesetzt, dann bin ich ĂŒber die Lohnbuchhaltung in die Personalabteilung gekommen.“ Die meiste Zeit beschĂ€ftige sich Bork im Alltag mit dem alten Lochkarten-System Hollerith, ehe er ab Mitte der 50er die AnfĂ€nge der elektronischen Datenverarbeitung (EDV) bei Volkswagen miterlebte. Zu seinen Kollegen zĂ€hlte er auch andere grĂŒn-weiße Sportler. „Peter Baronsky fĂ€llt mir da beispielsweise ein, aber auch andere Handballer oder Leute aus dem Radsport.“ 1989, nach 45 Dienstjahren im Werk, begann fĂŒr Bork die nach wie vor andauernde Phase des Ruhestands. Zu seinen schönsten Erinnerungen an die Berufsjahre zĂ€hlt ein Foto, das eine große Menschenmenge im Jahr 1955 beim Verlassen des Werks im Moment des beginnenden Werksurlaubs zeigt. Deutlich zu erkennen ist nicht nur Bork, sondern innig bei ihm eingehakt auch seine damalige Verlobte Gisela, die immer noch seine Ehefrau ist.  

 

Statt zur GrĂŒndung in den Kreißsaal

Mit den zwölf offiziellen VfL-GrĂŒndern hatte Bork kaum je etwas zu tun, was er vor allem auf den Altersunterschied schiebt. „Wir waren ja fast noch Kinder und wollten einfach nur Sport treiben. Um mehr ging es uns nicht. Der einzige, den ich kannte, war Schickl, denn der hat bei uns Handball gespielt.“ Dass die besagten Listen und ihre Bedeutung spĂ€ter je wieder groß zur Sprache gekommen wĂ€ren, daran erinnert sich der gebĂŒrtige Gronauer nicht. Allerdings verwundert dies auch kaum angesichts der Wirrungen, die die GrĂŒndung des VfL Wolfsburg grundsĂ€tzlich wohl begleitet haben. Den Wahrheitsgehalt einer schönen Anekdote, die der 2015 verstorbene Chronist des e.V. Jörn Radmer zusammengetragen hat, kann auch Bork beispielsweise bestĂ€tigen. So hatte auf der Einladungsliste in das Sitzungszimmer auf dem Steimker Berg eigentlich auch der spĂ€tere VfL-Mannschaftsarzt Willi Wolf gestanden. Auf dem Weg dorthin muss ihn jedoch der Ruf zu einer (anderen) Geburt ereilt haben. „FĂŒr die Abstimmungen hast du auch meine Stimme“, soll er angeblich Schickl, als er auf dem Absatz kehrtmachte, noch zugerufen haben. Als Wolf spĂ€ter am Abend zur Versammlung dazustieß, war der VfL bereits gegrĂŒndet.

Veröffentlicht im „Unter Wölfen Magazin“ im Juli 2020. Anmerkung der Redaktion: Helmut Bork ist am 1. September 2022 im Alter von 93 Jahren verstorben.